Ein Beitrag von Laura Fingerhut und Wiebke Saathoff, Hans-Wendt Kinder- und Jugendfarm

Amelie ist jugendlich und nimmt schon seit Monaten eher passiv am Schulunterricht teil. In Schulstunden, in denen es für sie gar nicht geht, besucht sie stattdessen die Kinder- und Jugendfarm der Hans-Wendt-Stiftung. Auch hier, auf dem weitläufigen Gelände in Borgfeld, fielen anfangs gehäuft die im Selbstbild verinnerlichten Sätze „Ich bin faul. Ich habe kein Bock. Ich kann das nicht.“ Mittlerweile kann sie selbstständig ihren Lieblingsesel führen, Holzarbeiten auf der Farm umsetzen und arbeitet kooperativ mit Mensch und Tier auf der Farm. Auch sie selbst erkennt ihre Stärken und Ressourcen an sich selbst immer mehr.

Ole ist gerade erst in die Schule gekommen. Sein Umfeld machte sich bereits vor Schulbeginn starke Sorgen um den Schulbesuch, da bereits der Kindergartenbesuch für ihn und seine Familie mit negativen Erfahrungen konnotiert war. All dies hatte Auswirkungen auf Oles Selbstwertgefühl und sein Sozialverhalten gegenüber anderen Kindern. Als er zu seinem ersten Termin auf unsere Kinder- und Jugendfarm kam, ging er für seine Verhältnisse schnell in den Kontakt zu der Fachkraft auf der Farm. Jeglicher weiterer Kontakt zu Tieren oder anderen Kindern wurde sehr zögerlich aufgenommen, seine Mutter wurde nicht aus den Augen gelassen und schnell entstehende Überforderungssituationen wurden panisch und angstbesetzt verlassen. Mittlerweise nimmt Ole gemeinsam mit der Fachkraft und ohne Begleitung der Mutter an tiergestützten Aktivitäten (teilweise mit anderen Kindern) teil und arbeitet an seinem Kaninchenführerschein.

Auch Lena mied die Schule, soziale Kontakte zu Gleichaltrigen und der Leistungsdruck überforderten sie. Auf unserer Farm konnte sie zu dem Therapiepferd Sam Vertrauen aufbauen. Sie genießt es, von ihm getragen zu werden, sein warmes Fell zu streicheln, aber auch die Pflege des Pferdes zu übernehmen. Ihr Gespür für die Bedürfnisse des Pferdes wuchs mit der Zeit, und mittlerweile zeichnet sich die Beziehung zu dem großen Tier durch eine besondere Fürsorglichkeit aus. Sie besucht wieder regelmäßig die Schule, auch wenn es dort ab und an zu Situationen der Überforderung kommt. Lena kann mittlerweile diese Situationen in den Einheiten thematisieren und verarbeiten. Es ist schön zu sehen, wie Sam ihre Gefühle positiv verändert und wie sie trotz Druck in der Schule sehr viel glücklicher als vorher die Farm verlässt.

Clara plagen viele Ängste, sie reagiert schnell panisch, wenn eine Situation ungewohnt ist. Auch fällt es ihr schwer, Bindungen zu Gleichaltrigen einzugehen. Seit ein paar Wochen besucht sie die Hans-Wendt Kinder- und Jugendfarm. Nach ein paar Einheiten, die ihr die Möglichkeiten bei der Arbeit mit dem Pferd gezeigt haben, durchläuft sie nun ein „Nur Mut-Programm“. Clara hat sechs Situationen mit dem Pferd aufgeschrieben, für die sie Mut braucht. Die Liste reicht von „dem Therapiepferd Tinker die Vorderhufe alleine auskratzen“ bis zu „freihändig galoppieren“. Mit viel Eifer und Freude arbeitet sie ihre Liste ab, um nach erfolgreicher Bewältigung von ihren persönlichen Angstsituationen eine Urkunde von der Therapeutin zu erhalten.

All diese jungen Menschen* besuchen die Farm einmal wöchentlich im Rahmen einer vom Amt für Soziale Dienste bewilligten Maßnahme: die heilpädagogische Einzelmaßnahme (HPE). Dies ist eine ambulante Hilfe, die auf der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII bzw. auf den Hilfen zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 2 SGB VIII beruht. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche, die der Unterstützung einerseits bei dem Lösen von Entwicklungsaufgaben und andererseits bei dem Umgang mit belasteten Lebenssituationen bedürfen.

Neben der für die Soziale Arbeit charakteristischen Grundlagen der Ressourcen- und Lösungsorientierung, der traumapädagogischen Bedürfnisorientierung oder der systemischen Lebensweltorientierung setzen wir bei der Sozialen Arbeit auf der Kinder- und Jugendfarm Borgfeld gezielt Tiere ein. Die Fachkräfte werden bei ihrer Arbeit durch die Pferde, die Esel, die Schafe, die Ziegen, die Kaninchen und die Hühner unterstützt. Dieses geplante Einsetzen der Tiere zur Erreichung festgelegter Ziele in Kombination mit Dokumentation, Reflexion und Auswertung nennt sich im pädagogischen Setting tiergestützte Pädagogik.

Wenn ein Kind oder ein*e Jugendliche*r eine heilpädagogische Maßnahme auf unserer Kinder- und Jugendfarm beginnt, baut er oder sie neben der Beziehung zu der Fachkraft auch eine Beziehung zu einem oder mehreren Tieren auf. Einerseits ermöglicht dieses gemeinsame Erleben den professionellen Beziehungsaufbau zur Fachkraft, andererseits bietet die Beziehung zu dem Tier stets eine Ehrlichkeit und Authentizität, die es den Klient*innen (wieder) ermöglicht, überhaupt in eine Beziehung zu gehen und auch selbst ehrlich und unverstellt zu sein. In der weiteren Arbeit können verschiedene Methoden angewandt werden. Beginnend mit der Tierbeobachtung, bei welcher die Kommunikation des Tieres gedeutet wird, gehen Kinder und Jugendliche dann in den Kontakt mit den Tieren. Hier geht es darum, den eigenen Individualbereich und den des Tieres zu erkennen und die erkannten Grenzen zu wahren. Häufig sind Gefühle und Stimmungen ein großes Thema, so dass gemeinsam mit den Tieren die eigenen Gefühle und die des Gegenübers wahrgenommen werden können und dementsprechend gehandelt werden kann. Auch bei der Tierpflege oder der Tierfütterung geht es darum, Bedürfnisse wahrzunehmen und dementsprechend zu handeln. Beim gemeinsamen Spaziergang mit unseren Pferden, Eseln, Ziegen oder Schafen mit der Aufgabe das Tier zu führen, werden weitere Kompetenzen gefördert. Das Betrachten der Umgebung mit den Tieraugen fördert die Empathie der Kinder und Jugendlichen und durch das Meistern einer herausfordernden Situation werden außerdem das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit gestärkt.

Generelle Ziele einer heilpädagogischen Maßnahme sind die Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung, die Stärkung sozialer Kompetenzen und der Kommunikationsfähigkeit, die Bearbeitung von Konflikten, die Aufarbeitung schwieriger Lebenssituationen oder die Stärkung des Selbstwertgefühls und der Beziehungsfähigkeit. Darauf bauen die Ziele einer tiergestützten heilpädagogischen Einzelmaßnahme auf. Angestrebt werden somit außerdem die Stärkung des Selbstvertrauens und des Vertrauens zu Anderen, die Stärkung der Du-Evidenz (das Wahrnehmen anderer Lebewesen als Individuen), das Erlernen von Perspektivübernahme und Empathie, das Erlernen von Verantwortungsübernahme, das Überwinden von Ängsten. Kinder und Jugendliche haben im Farmkontext durch die Atmosphäre und die tierischen Begleiter*innen die Möglichkeit, sich anders als in anderen Kontexten zu erleben und erlangen so ein positives Selbstbild von sich. Dies ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Interaktion mit Anderen und eine positive Persönlichkeitsentwicklung.

Neben dem Amt für Soziale Dienste kooperiert die Kinder- und Jugendfarm der Hans-Wendt-Stiftung aktuell mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Bremen Ost. Einmal wöchentlich besuchen meist zwei Jugendliche mit einer Betreuungsperson die Farm und nehmen Kontakt zu den sanften Vierbeinern auf. Je nach Vorerfahrung und Interesse können die Jugendlichen reiten, die Pferde putzen, mit ihnen spazieren gehen oder gemeinsam mit dem Partner Pferd einen Parcours meistern. Der Umgang mit den Tieren an der frischen Luft bewirkt Wunder. „Heute Morgen nach dem Aufwachen dachte ich nicht, dass ich heute glücklich sein würde!“ Dieses Wunder bewirkte Therapiepferd Lazy, nachdem Franka, Bewohnerin der geschützten Station des Klinikums Ost, auf ihrem Rücken Platz nehmen durfte. Das Therapiepferd machte möglich, dass sich die Jugendliche geschützt und geborgen fühlen konnte, und bewirkte die wichtigste Emotion, die wir Menschen empfinden können: Freude!

*Alle genannten Personen sind zur Wahrung des Datenschutzes anonymisiert dargestellt.

Zum Weiterlesen:

  • Schmidt, Judith (2022): Der Esel in tiergestützten Interventionen. 2. Auflage. Ernst Reinhard Verlag. München.
  • Dapper, Darga (2022): Tierisch systemisch. Lösungs- und Ressourcenorientierung in der tiergestützten Intervention. Ernst Reinhard Verlag. München.

Zu den Autorinnen:
Laura Fingerhut und Wiebke Saathoff führen tiergestützte heilpädagogische Einzelmaßnahmen auf der Hans-Wendt Kinder- und Jugendfarm durch. Laura Fingerhut ist Sozialpädagogin und wendet in ihrer Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen neben der primären tiergestützten Methodik auch traumapädagogische und systemische Techniken an. Wiebke Saathoff ist Diplom-Handelslehrerin und Reittherapeutin. In den pferdegestützten Einzelmaßnahmen geht es nicht nur um das Reiten, sondern auch um den Umgang mit dem Pferd.